23.04.2019 – Was ist Digitalisierung?

Die Seminareinheit am 23.04. nahm gegenüber der Ersten nun einen völlig anderen Verlauf. War ursprünglich eine Diskussion der Themen des Leseauftrags über Ostern geplant, so zeigte sich doch schon beim Einstieg in dieselbe, dass zunächst eine dringende Notwendigkeit zur Klärung von zwei elementaren Fragen bestand:

„Worüber sprechen wir, wenn wir von Digitalisierung reden und warum streben wir Digitalisierung von Unterricht an?“

Die Ergebnisse der vorangegangenen Einheit zeigten deutlich, woran die meisten von uns intuitiv beim Thema Digitalisierung denken: Ersetzung und Ergänzung analoger Medien durch Digitale mit dem vorrangigen Ziel der Zeitersparnis und ggf. auch aus Modernitätswahn. Auch unsere Befürchtungen im Zusammenhang mit dieser Art von Digitalisierung hatten wir in der vergangenen Einheit ausführlich kundgetan.

Im Zuge dessen sah sich die Dozentin wohl vor die Aufgabe gestellt, der Digitalisierung und der modernen Schule ein kritikfesteres Fundament zu liefern und unseren Blickwinkel auf Digitalisierung zu verändern. Es entwickelte sich hieraus eine ausschweifender Monolog, welcher gelegentlich unterbrochen wurde, um uns Zuhörern Gelegenheit zu geben, Erfahrungen und Meinungen mit einzubringen. Ich werde versuchen, diejenigen Aspekte des Gesprächs zusammenzufassen, die mir als wichtig in Erinnerung geblieben sind oder mich zum Nachdenken anregten. Um die Art und Weise, wie diese Gedanken an uns Zuhörer herangetragen wurden, zu vermitteln, behalte ich die vortragende Sprache bei.

Was also ist Digitalisierung von Unterricht und warum sollten wir sie verfolgen? Wir werden sehen, dass insbesondere die letzte Frage schnell zu einem philosophischen Problem mutiert.

Im Grundgedanken beginnen wir mit der Fokussierung auf eine bestimmte Funktion von Schule: Schülerinnen und Schüler sollten nach ihrem Weg durch das Bildungssystem in der Lage sein, ein erfülltes Leben in der (realen) Welt, spezifischer in der modernen Gesellschaft zu führen. Dem allgemeinen Empfinden nach zeichnet sich diese Moderne besonders durch ihren hohen Grad an Instabilität aus. Die Anforderungen, welche sie an ein Individuum stellt, seien es die Herausforderungen des Arbeitsmarktes oder auch Fragen des Privatlebens („Wo, wie und mit wem lebe ich?“), sind ständiger Veränderung durch die Globalisierung unterworfen. In dieser Welt selbstbestimmt Leben zu können, heißt flexibel zu sein und die individuellen Stärken zu kennen und ausspielen zu können. In Hinblick auf diese Ziele ändern sich die Bedeutungen von Wissen und Bildung in der modernen Gesellschaft und somit auch die Aufgaben der Schule. Die Flexibilisierung und Individualisierung von Unterricht werden zu übergeordneten Zielen. Was und wie Schülerinnen und Schüler lernen sollen, kondensiert vermutlich im 4-Kompetenzen-Modell, welches wir im weiteren Verlauf des Seminars mit Sicherheit noch ausführlicher erläutert sehen werden. Knapp gesagt sieht sich die moderne Schule mit der Aufgabe konfrontiert, jede Schülerin und jeden Schüler individuell zu versorgen und die Kompetenzen von Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritischem Denken zu fördern.

Der Digitalisierung kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu, denn sie verkörpert gewissermaßen das System, nach dem die Flexibilisierung und Individualisierung von Schule erfolgen soll. Ihre Aufgaben sind dabei das Aufdecken von neuen Medien, Methoden und Werkzeugen, welche der Vermittlung der genannten Kompetenzen dienlich sein könnten oder aber die alltäglichen Abläufe der Schule hinsichtlich Flexibilität und Individualisierung verbessern, die Einordnung dieser in den Kontext und die Leistungsfähigkeit der vorhandenen Medien, Methoden und Werkzeuge, aber auch die Umgestaltung des Unterrichts in Inhalt und Struktur mittels des daraus neu entstehenden Korpus‘ an Medien, Methoden und Werkzeugen im Sinne der Flexibilisierung und Individualisierung. Insbesondere gehört zu Digitalisierung also auch das ständige Überdenken der aktuell vorhandenen und gern verwendeten Mittel und die Bewertung derer hinsichtlich ihres Nutzens für das Ziel von Flexibilisierung und Individualisierung.

Konkreter: In jedem Raum der Schule ein Smartboard anzubringen oder jeder Schülerin und jedem Schüler ein Tablet zur Verfügung zu stellen ist noch keine Digitalisierung von Schule oder Unterricht. Hierfür müssen zum einen die neuen technischen Mittel kreativ genutzt und der Erfolg des Vorgehens permanent bewertet werden, zum anderen muss auch der Inhalt und die Struktur des Unterrichts selbst mit diesen Mitteln umgestaltet werden. So kann die Digitalisierung gegebenenfalls sogar erfordern, ein analoges Medium einem Digitalen vorzuziehen, wenn die Lehrkraft beispielsweise damit besser auf individuelle Schülerbedürfnisse eingehen kann.

Was damit zurückgewiesen werden kann, ist eine Einteilung von digitalen Mitteln nach dem „Mehrwert“, den sie im Vergleich zu den „herkömmlichen“ Mitteln aufweisen sollen. Der Wert eines Mittels im Unterricht soll sich vielmehr nur daraus ergeben, ob dieses dem Ziel von Flexibilisierung und Individualisierung zuträglich ist. Und da damit immer eine Ausrichtung des Mittels auf die Gegebenheiten der Situation (Klassenkonstellation, familiärer Hintergrund, Vorwissen, Interessen, Tageszeit, Bekömmlichkeit des Mittagessens, etc.) erforderlich ist, ist von Grund auf kein Mittel des Unterrichts immer ungeeigneter als ein anderes. Die Herausforderung besteht vielmehr in der richtigen Auswahl für eine gegebene Situation.

Somit ist schließlich Digitalisierung von Unterricht untrennbar verbunden mit der Philosophie von Flexibilisierung und Individualisierung. Einfordern kann Digitalisierung also jemand, der sich den oben geschilderten Weg für die moderne Schule wünscht, kritisieren kann Digitalisierung jemand, der einer anderen Bildungsphilosophie anhängt.

Kritik an einzelnen erfolglosen Schritten von Digitalisierung (wie z.B. missglückte Unterrichtsstunden bei der Verwendung eines neuen Mediums) ist jedoch logisch substanzlos, denn die Bewertung ist Teil des Prozesses der Digitalisierung. Vielmehr ist solche Kritik also selbst wieder Teil von Digitalisierung.

Ich freue mich darauf, in den kommenden Einheiten des Seminars dieses theoretische Konstrukt in praktischer Aktion zu sehen, wenn wir uns mit bestimmten digitalen Medien befassen und ihr Potential diskutieren. Ebenso hoffe ich, dass wir die Gelegenheit bekommen, Digitalisierung dort kritisch zu hinterfragen, wo sich ihre Ziele mit denen anderer Bildungsphilosophien beißen (Beispiel: Kopfrechnen vs. Taschenrechner).